Wegweisendes Urteil des EuGH – Familiennachzug zu unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten

lifeline e.V. begrüßt das lang erwartete Urteil des EuGH vom 1.8.2022 und schließt sich den Forderungen des Flüchtlingsrats Niedersachsen an. Im Folgenden die Stellungnahme des Flüchtlingsrats Niedersachsen:

“Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 1.8.2022 in zwei wegweisenden Urteilen in Deutschland entschieden, dass Eltern bzw. Kindern der Familiennachzug auch dann nicht verwehrt werden darf, wenn die Kinder zum Zeitpunkt der Asylantragsstellung minderjährig waren und im Laufe der Zeit volljährig wurden.

Auf dieses Urteil musste über vier Jahre gewartet werden. Im April 2018 entschied der EuGH in einem Fall aus den Niederlanden, dass Eltern von unbegleiteten Minderjährigen mit Flüchtlingsanerkennung auch dann zu ihren Kindern nachziehen dürfen, wenn die Kinder im Laufe des Asylverfahrens volljährig werden. Entscheidend sei, dass das Kind zum Zeitpunkt der Stellung seines Asylantrags minderjährig war. Trotz der Eindeutigkeit dieses Urteils haben die deutschen Auslandsvertretungen seine Umsetzung bislang verweigert. Die Begründung: Das niederländische Recht wäre mit dem Deutschen nicht vergleichbar und das Urteil deshalb auf die Bundesrepublik nicht übertragbar. Im Ergebnis hat die Ignoranz deutscher Auslandsvertretungen junge Menschen jahrelang von ihren Familien getrennt und das Recht auf Familienleben elementar verletzt.

In den vergangenen Jahren haben Verzögerungen auf Seiten der Behörden bei der Bearbeitung von Asyl- oder Visumanträgen die Zusammenführung in vielen Fällen verhindert. Wenn der/die Minderjährige im Laufe dieser Verfahren volljährig wurde oder zu werden „drohte”, wurden Visa-Anträge entweder abgelehnt oder das Verfahren bis zu einer Entscheidung des EuGH zu den dort anhängigen Fällen aus Deutschland „eingefroren.” Nun ist klar: Die Ablehnung der Erteilung eines nationalen Visums zum Zweck der Familienzusammenführung verstieß in diesen Fällen gegen das Unionsrecht.

In seiner Entscheidung vom 01. August 2022 kommt der EuGH – wie erwartet – in einem Verfahren gegen die Bundesrepublik zu dem Schluss, dass bei Familienzusammenführung mit Minderjährigen deren Alter zum Zeitpunkt des Asylantrags – ob des eigenen oder das der in Deutschland lebenden Eltern(teile) – maßgebend ist. Äußere Umstände, die sie selbst nicht in der Hand haben, wie etwa langwierige Asyl- oder Visumsverfahren, dürften den Antragsstellenden nicht zum Nachteil gereicht werden.

Die Entscheidung des EuGH hat grundsätzliche Bedeutung und ist somit nicht nur für die konkret entschiedenen Einzelfälle, sondern für Behörden und Gerichte in allen Mitgliedstaaten bindend. Deshalb bedeutet das Urteil des EuGH für viele Familien – in Deutschland und darüber hinaus – eine Chance auf die erhoffte und lang erwartete Zusammenführung mit ihren Angehörigen.

Der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert eine schnelle Visumerteilung in allen bisher „eingefrorenen” Verfahren. Darüber hinaus muss es unbürokratische Lösungen für die Geflüchteten geben, deren Anträge in der Vergangenheit mit Verweis auf die (nahende) Volljährigkeit des Kindes abgelehnt wurden. Zuletzt muss auch für Personen, die es versäumt haben, einen Antrag auf Familiennachzug innerhalb der drei-Monatsfrist zu stellen, Möglichkeiten geschaffen werden, dies nachzuholen, denn viele Anspruchsberechtigte waren sich dieser Frist nicht bewusst oder haben sie in dem Glauben verstreichen lassen, mit der Volljährigkeit des Kindes wäre alle Hoffnung auf eine Zusammenführung verloren.”

lifeline e.V. fordert an dieser Stelle außerdem, dass auch für Menschen mit subsidiärem Schutz bei Familienzusammenführung mit Minderjährigen deren Alter zum Zeitpunkt des Asylantrags – ob des eigenen oder das der in Deutschland lebenden Eltern(teile) – als maßgebend erachtet werde. Ein Urteil in dieser Richtung steht noch aus. In diesem Sinne fordert auch Pro Asyl “Die Bundesregierung muss endlich ihren Versprechen aus dem Koalitionsvertrag nachkommen und die Visavergabe beschleunigen und digitalisieren sowie subsidiär Schutzberechtigte beim Familiennachzug Flüchtlingen gleichstellen. Denn ansonsten müssen viele nach Deutschland geflüchtete Menschen weiterhin jahrelang auf ihre engsten Angehörigen warten.”

Weitere Informationen finden Sie/ findet ihr in den folgenden Links.

Bericht des Flüchtlingsrates Niedersachsen

Pressemitteilung des EuGH

Hinweise von Pro Asyl