Zum Tag der Menschenrechte – Rechte von jungen Geflüchteten stärken statt Haushaltskürzungen

Spendenaktion für „Frische Brise“

Der 10. Dezember ist Tag der Menschenrechte. Diesen Tag wollen wir nutzen, um die Aufmerksamkeit insbesondere auf Kinderrechte und die Rechte von geflüchteten Menschen zu lenken. Als Verein setzen wir uns für die Rechte und Interessen von unbegleiteten minderjährigen und jungen volljährigen Geflüchteten ein. Sie stellen eine besonders vulnerable und damit eine besonders schützenswerte Gruppe dar.

Im Projekt „Frische Brise – Qualifizierung und Begleitung von Einzelvormundschaften für unbegleitete minderjährige Geflüchtete und Begleiter*innen für junge Volljährige“ vermitteln wir ehrenamtliche Vormundschaften für unbegleitete minderjährige Geflüchtete und informelle Begleitungen an junge volljährige Geflüchtete. Die Ehrenamtlichen übernehmen die verantwortungsvolle Aufgabe sich für die jungen Menschen einzusetzen, eine Ansprechperson zu sein, ihre rechtlichen Ansprüche zu vertreten und ihnen in allen Fragen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Noch letztes Jahr wurde die Gruppe der lifeline-Ehrenamtlichen für ihren Einsatz mit dem Leuchtturm des Nordens, welcher seit 2005 jährlich anlässlich des Internationalen Menschenrechtstag verliehen wird, ausgezeichnet. Das „Frische Brise“ Team steht den Ehrenamtlichen zur Seite, organisiert Fortbildungen sowie Austausche und bietet Einzelfallberatung an.

Derzeit ist unklar, ob unser Projekt „Frische Brise“ auch im kommenden Jahr weitergeführt werden kann, da die Finanzierung durch das Sozialministerium des Landes Schleswig-Holstein unsicher ist. Ohne das Projekt „Frische Brise“ können wir ehrenamtliche Vormund*innen und weitere ehrenamtlich Aktiven nicht akquirieren, schulen und betreuen. Dies würde sowohl für die Ehrenamtlichen als auch die Kinder und Jugendlichen einen großen Einschnitt bedeuten.

Die finanziellen Unsicherheiten bestehen obwohl seit der Reform des Vormundschaftsrechts, die zu Beginn diesen Jahres in Kraft getreten ist, ehrenamtliche Vormundschaften gegenüber Amtsvormundschaften, Berufsvormundschaften und Vereinsvormundschaften zu bevorzugen sind.

In solch einer ehrenamtlichen Einzelvormundschaft ist die Chance groß, dass sich zwischen Vormund*in und Mündel eine dauerhafte Vertrauensbeziehung entwickelt, die auch über das Eintreten der Volljährigkeit hinausgeht. Vor, während und nach der Übernahme einer ehrenamtlichen Vormundschaft steht lifeline e.V. im Rahmen des Projekts „Frische Brise“ als Anlauf- und Beratungsstelle für die Ehrenamtlichen und Jugendlichen bereit. Auch im Jahr 2024 wollen wir die Erfahrung, die wir in unserer langjährigen Arbeit als zivilgesellschaftliche Organisation erworben haben gerne weiter nutzen, um unsere engagierten Ehrenamtlichen und Jugendlichen zu begleiten.

Wir sind derzeit auf allen Ebenen aktiv, um die Förderung durch das Land zu erwirken. Um die bestehenden finanziellen Unsicherheiten abzufedern, freuen wir uns über Spenden via https://betterplace.org/p130812 oder das bekannte Spendenkonto des Vereins (Kontoinhaber: lifeline Vormundschaftsverein e.V. – IBAN: DE66 5206 0410 0006 4114 87 – BIC: GENODEF1EK1 – Bank: Evangelische Bank Kiel).

Wir bitten herzlich um Mithilfe in Form von Spenden, egal welcher Größe, und Verbreitung der Aktion. Vielen Dank!

Rechtsverletzungen bei unbegleiteten geflüchteten Kindern und Jugendlichen

Unbegleitete Minderjährige haben die gleichen Rechte wie alle anderen Kinder und Jugendlichen und sind zwingend im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe unterzubringen. Während gerade sie als vulnerable Gruppe auf den umfangreichen Leistungskatalog des SGB VIII angewiesen sind, sind derzeit akute Einschränkungen ihrer Rechte zu beobachten. Das Kindeswohl ist für sie nicht mehr gewährleistet.

Im Folgenden werden die unterschiedlichen Rechtsverletzungen in Kürze dargestellt. Die unterzeichnenden Organisationen fordern die Bundesregierung, die Bundesländer und die Kommunen dazu auf, dafür zu sorgen, dass diese und weitere Rechtsverletzungen geflüchteter Kinder und Jugendlicher in Zukunft unterbunden werden.


Unterbringung und Versorgung: Massiv eingeschränkte Rechte in der Ankommensphase

Minderjährige Geflüchtete werden zunächst vorläufig in Obhut genommen. In diesem Verfahren wird die örtliche Zuständigkeit geprüft und ggf. bundesweit verteilt. Die Wartezeiten für die dafür notwendigen Erstgespräche sind in Ballungsgebieten jedoch gerade sehr lang, teils bis zu acht Monaten. Damit verbleiben junge Menschen über Monate in Ausnahme-Strukturen. Sie haben in dieser Zeit nur eine rechtliche Notvertretung, jugendhilferechtliche oder psychische Bedarfe werden nicht geprüft, und es findet nur eine rudimentäre Betreuung statt. Zudem werden sie in dieser Zeit nicht für die Schule angemeldet. Tausende Kinder und Jugendliche sind somit über Monate in ihrem Recht auf Bildung massiv eingeschränkt, ihre Schulpflicht wird verletzt – dies kann gravierende Folgen für ihre weitere Entwicklung haben.


Unterbringung und Versorgung: Diskriminierende Standard-Absenkungen im SGB VIII für Unbegleitete

Auch über die Phase des Ankommens hinaus ist eine angemessene, das Kindeswohl berücksichtigende Versorgung, Betreuung und Begleitung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) derzeit an vielen Orten Deutschlands nicht mehr gewährleistet. Viele Bundesländer reagierten auf den massiven Einrichtungs- und Personalmangel bereits mit Absenkung der im SGB VIII festgelegten Standards. Teilweise werden Kinder und Jugendliche in Gemeinschaftsunterkünften und Turnhallen untergebracht, ohne angemessene Betreuung und ein Mindestmaß an Privatsphäre. Diese Diskriminierung der jungen geflüchteten Menschen ist nicht hinnehmbar und unvereinbar ihrem Recht auf Gleichbehandlung aus der UN-KRK und dem Grundgesetz, sie liefert zudem eine Blaupause, auch in anderen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe Standards herabzusetzen. Leistungen des SGB VIII stehen allen Kindern und Jugendlichen zu, die sich in Deutschland aufhalten. Diese Leistungen beinhalten auch Hilfen für junge Volljährige. Sehr häufig werden bestehende Jugendhilfemaßnahmen zum 18. Geburtstag junger Geflüchteter beendet, obwohl bei entsprechendem Bedarf ein Anspruch auf Hilfen für junge Volljährige besteht.


Vormundschaften: Völlige Überlastung verhindert angemessene Vertretung

Zentral für die Wahrung der Rechte junger Geflüchteter ist die adäquate Vertretung durch geeignete Vormundinnen. Vormundschaftsvereine und Amtsvormundinnen sind seit Monaten jedoch vielerorts völlig überlastet. Die ohnehin realitätsferne gesetzliche Fallobergrenze von 50 Mündeln pro Vormund wird nicht mehr eingehalten. Vormundinnen sind aber gerade in den ersten Monaten existentiell, z.B. für die Stellung eines Asylantrags, die hohe Fachkenntnis und Zeitkapazitäten voraussetzt. In der aktuellen Situation kommt es immer wieder zu fatalen Versäumnissen der Vormundschaft in Bezug auf Asyl- und aufenthaltsrechtliche Fragen. Vormundinnen und ihre Mündel müssen die Möglichkeit zur Information durch fachkundige Beratungsstellen erhalten. Es sollte nicht vorausgesetzt werden, dass Vormund*innen selbst über dieses Wissen verfügen, vielmehr müssen sie gut angebunden werden an asyl- und aufenthaltsrechtliche Fachberatung. Berichte, dass Amtsvormünder selbst in dringenden Notfällen und bei akuter Kindeswohlgefährdung nicht erreichbar sind, häufen sich.


Beendigung von Inobhutnahme & Alterseinschätzung: Fehlende Standards, fehlender Rechtsschutz

Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme müssen Jugendämter die Minderjährigkeit prüfen. Immer häufiger wird Jugendlichen nach einer sehr langen Wartezeit die Inobhutnahme verweigert, da sie als vermeintlich volljährig eingeschätzt werden. Das passiert i.d.R., wenn die Jugendlichen ihr Alter nicht aufgrund von Identitätsdokumenten nachweisen können oder diese nicht anerkannt werden. Nach übereinstimmendem Forschungsstand gibt es allerdings keine Methode, das Alter zweifelsfrei zu bestimmen. Für die Altersfestsetzung gibt es keine einheitlichen Standards. Sie findet je nach Jugendamt unter sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen statt. Wird Volljährigkeit festgesetzt, wird die Inobhutnahme beendet, und den jungen Menschen steht kein ausreichender Rechtsschutz zur Verfügung. Der Zugang zum Jugendhilfesystem bleibt Ihnen in vielen Fällen verwehrt, und gesetzlich vorgesehene Hilfen für junge Volljährige werden auch im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme unzureichend geprüft. Junge Menschen finden sich dann in nicht altersgerechten Gemeinschaftsunterkünften wieder, ohne gezielte Unterstützung oder bedarfsgerechte Versorgung.


Abbau von Unterstützungs-und Beratungsstrukturen:

Die Herabsenkung von Standards in der Versorgung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen geht einher mit einem Abbau von essentiellen Unterstützungsstrukturen durch geplante Finanzkürzungen der Bundesregierung im Bereich der gesamten asyl- und aufenthaltsrechtlichen Beratung, Migrationssozialarbeit und psychosozialer Betreuung. Es ist aber vielmehr notwendig, Strukturen zu erhalten und auszubauen, die Qualifizierung und ergänzende Fachexpertise vermitteln können. Ebenso müssen Arbeitsbedingungen für Fachkräfte attraktiver gestaltet werden und nicht, wie aktuell geplant, durch massive Kürzungen immer prekärer werden.

Unterzeichnende:

BumF – Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V.
Bundesnetzwerk Ombudschaft in der Jugendhilfe e. V.
Flüchtlingsrat Berlin e.V.
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
Flüchtlingsrat NRW e.V.
Flüchtlingsrat Thüringen e.V.
Jugendliche ohne Grenzen
lifeline – Vormundschaftsverein im Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
Sächsischer Flüchtlingsrat e.V.
terre des hommes Deutschland e.V.

Zum Tag der Kinderrechte

20. November 2023

Heute, am 20. November, ist Tag der Kinderrechte, denn an diesem Tag 1989 wurde die 54 Artikel umfassende UN-Kinderrechtskonvention angenommen. Fast ein Drittel der Menschen, die nach Deutschland flüchten, sind Kinder. Als Verein, der sich für die Rechte und Interessen von unbegleiteten minderjährigen und jungen volljährigen Geflüchteten einsetzt, wollen wir diesen Tag nutzen, um aktuelle politische und rechtliche Entwicklungen im Bereich Flucht und Migration kritisch zu beleuchten.

In den letzten Wochen und Monaten gab und gibt es zahlreiche Vorschläge, Maßnahmenpakete oder Gesetzesentwürfe sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene. Die Rechte von geflüchteten Kindern und Jugendlichen finden darin jedoch so gut wie keine Beachtung, sondern werden zum Teil sogar eingeschränkt.

Am 06. November haben sich Bundeskanzler Olaf Scholz und die Regierungschef*innen der Länder getroffen und einen Beschluss für „Humanität und Ordnung“ gefasst. Dabei ist Humanität in Form von Kindeswohl und Menschenrechten nicht zu finden:
Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sollen 36 statt zuvor 18 Monate gezahlt werden. Statt Bargeldzahlungen, soll es eine Bezahlkarte geben. Asylverfahren sollen in Drittstaaten externalisiert und Binnengrenzen stärker kontrolliert werden. Entgegen der Ankündigung im Koalitionsvertrag soll der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nun doch nicht mit dem erleichterten Verfahren zu GFK-Flüchtlingen gleichgesetzt werden.

All diese Forderungen lassen die Rechte von Kindern und jugendlichen Geflüchteten außer Acht. Vor allem zwei Aspekte sind besonders zu betonen:


– Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und Bezahlkarte verhindern kindes- und jugendgerechtes Aufwachsen mit Anspruch auf ausreichende Gesundheitsversorgung.

– die andauernde Beschränkung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten bedeutet andauernde Trennung von Familien. Wir stellen in unserer Arbeit immer wieder fest, dass die Sorge um ihre Familie junge Geflüchtete extrem belastet.

Außerdem manifestiert der Beschluss die ‚Festung Europa‘.
Obwohl das Zurückweisen von Minderjährigen an Binnengrenzen nach EuGH rechtswidrig ist.
Obwohl das Recht und die Chance einen Asylantrag zu stellen, nicht durch Grenzkontrollen an Außen- oder Binnengrenzen eingeschränkt werden darf.

lifeline e.V. kritisiert diesen Beschluss ebenso wie die aktuellen GEAS-Reformvorschläge. Wir beobachten die Verschärfungen in politischen und rechtlichen Debatten, Gesetzesentwürfen und Maßnahmen mit Sorge und Wut.

Grundlegende Menschen- und Kinderrechte werden verraten.

Nicht nur am heutigen Tag der Kinderrechte fordern wir ein Umdenken und -handeln in der Migrationspolitik. Für ein menschenwürdiges Leben für alle geflüchteten Menschen,
für alle Kinder und Jugendliche!

30 Jahre Asylbewerberleistungsgesetz: 200 Organisationen fordern seine Abschaffung

Presseerklärung

25. Mai 2023

1993 beschloss der Bundestag die Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes als Instrument der Abschreckung. Zum 30. Jahrestag der Beschlussfassung am 26. Mai fordern mehr als 200 Organisationen die Gleichbehandlung aller Menschen in Deutschland nach den Regeln des Sozialgesetzbuchs: “Es gibt nur eine Menschenwürde – Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen!”


Am 26.5.1993 beschloss der Bundestag im sogenannten Asylkompromiss, das in der Verfassung garantierte Grundrecht auf Asyl stark zu beschneiden, um Flüchtlinge möglichst fernzuhalten. Gleichzeitig wurde mit dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) ein neues Gesetz geschaffen, das die Lebensverhältnisse von Asylsuchenden in Deutschland gezielt verschlechtern und die soziale Versorgung auf ein Niveau deutlich unterhalb der regulären Sozialleistungen absenken sollte.

Ziel des Gesetzes war es, Schutzsuchende durch das Wohnen in Sammelunterkünften, durch niedrigere Leistungen und durch Sachleistungen statt Geld abzuschrecken oder zur Ausreise zu bewegen. Auch heute liegen die Regelsätze des AsylbLG deutlich unter denen des Bürgergelds beziehungsweise der Sozialhilfe. Sachleistungen statt Geld bedeuten für die Betroffenen zusätzliche Einbußen. Zudem führt eine nach dem Gesetzeswortlaut stark beschränkte Gesundheitsversorgung in der Praxis zu verspäteter und unzureichender Behandlung, und behördliche Sanktionen führen zu weiteren Kürzungen.

“Die Menschenwürde zählt – für Schutzsuchende darf es keinen niedrigeren Standard geben”, kritisiert Andrea Kothen, Referentin von PRO ASYL. “Es ist Zeit, dieses beschämende Kapitel deutscher Abschreckungspolitik der 1990er Jahre endlich zu beenden.”

Von Anfang an hatten sich Kirchen, Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen gegen das AsylbLG als diskriminierendes Sondergesetz gewandt. Seit Anfang 2023 fand sich nun ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen unter dem Motto “Es gibt nur eine Menschenwürde – Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen!” zusammen. Sie fordern die Abschaffung des AsylbLG und die Einbeziehung Geflüchteter in das reguläre Sozialleistungssystem. Unter den 200 Unterzeichner*innen finden sich u.a. Menschenrechtsorganisationen, Wohlfahrtsverbände, Organisationen von Migrant*innen, Vereinigungen von Anwält*innen, Jurist*innen, Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen, Frauenverbände und Kinderrechtsorganisationen.

Ein Gesetz gegen die Menschenwürde

Mit dem AsylbLG kam man den aggressiven und menschenfeindlichen Stimmen gegenüber Schutzsuchenden in Politik und Gesellschaft Anfang der 1990er Jahre weit entgegen. 2012 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, die Menschenwürde sei “migrationspolitisch nicht zu relativieren” und verurteilte damit die Absenkung von Leistungen zum Zweck der Abschreckung (Beschluss vom 18.7.2012 – 1 BvL 10/10). Zuletzt verwarf das höchste deutsche Gericht im Oktober 2022 gekürzte Leistungssätze für Alleinstehende und Alleinerziehende in Sammelunterkünften als verfassungswidrig (Beschluss vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21).

Die aktuelle Bundesregierung will das Asylbewerberleistungsgesetz laut Koalitionsvertrag “im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weiterentwickeln”. Bis heute ist nicht einmal das Urteil des Verfassungsgerichts vom Oktober 2022 im AsylbLG umgesetzt. Ein Blick in die Geschichte des AsylbLG zeigt allerdings, dass ein von vornherein auf Diskriminierung angelegtes Sondergesetz sich nicht verfassungskonform ändern lässt, sondern je nach politischer Stimmungslage immer wieder dazu einlädt, neue Zumutungen und Schikanen auf den Weg zu bringen. Sozialrechtler*innen weisen zudem stetig darauf hin, dass sehr viele behördliche AsylbLG-Bescheide zum Nachteil von Geflüchteten nachweislich falsch sind und vertreten die davon Betroffenen.

Unabhängige Gruppen haben für die Zeit vom 20.-26. Mai bundesweite Aktionstage für die Abschaffung des AsylbLG ausgerufen.

Eine andere Flüchtlingspolitik ist möglich

Die Flüchtlingsaufnahme 2015/16 und die Aufnahme von über einer Million ukrainischer Geflüchtete 2022 haben eine offene und hilfsbereite Gesellschaft sichtbar gemacht. Gleichwohl vereinbarten Bund und die Ministerpräsident*innen der Länder im Mai 2023 Verschärfungen in der Flüchtlingspolitik, die unter anderem auch neue Sozialleistungskürzungen beinhalten. Dem gegenüber verweisen die Integrationsminister*innen der Länder auf die positiven Erfahrungen mit der Gleichstellung ukrainischer Geflüchteter und dringen auf einen zügigen, diskriminierungsfreien Zugang zu Integrationsleistungen “für alle vor Krieg, Gewalt und Verfolgung geflüchteten Menschen”. Für Kommunen und Länder hätte die Gleichstellung von Geflüchteten wegen der stärkeren Bundesbeteiligung und wegfallender Sondergesetz-Bürokratie auch finanzielle Vorteile.

Der vollständige Text des Appells und die aktuelle Unterzeichnerliste finden Sie hier.

Dem Bedarf an Einwanderung gerecht werden und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.

OFFENER BRIEF

an die Landesregierung und Kommunale Spitzenverbände in Schleswig-Holstein zum Flüchtlingsgipfel am 16. Februar 2023

Wir sind besorgt!

Allenthalben gefallen sich einige Vertreter*innen der EU- und Bundespolitik darin, über das Martyrium der Menschen in repressiven Staaten wie Iran oder Russland, in den Erdbeben-geschüttelten Gebieten der Türkei und Syriens oder über die Kriegsgewalt innerhalb und außerhalb Europas öffentlich demonstratives Bedauern zu äußern.

Gleichzeitig verbreiten Teile der Politik aktuell einen Alarmismus, der Schutz und Überleben suchende Menschen – insbesondere aus Drittstaaten – als Belastung abstempelt, regelmäßig gesellschaftliche Überforderung behauptet und der Öffentlichkeit unrealisierbare Rückführungsoffensiven verspricht.

Vor diesem Hintergrund begrüßt der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein den für den 16. Februar zwischen Bund, Ländern und Kommunen geplanten Flüchtlingsgipfel als eine Gelegenheit, eingedenk offenkundiger zuwanderungspolitischer Bedarfslagen zu Augenmaß und flüchtlingspolitischer Vernunft zurückzukehren.

Denn wir brauchen Zuwanderung. Wir schaffen das. Wir haben Platz.Die unterzeichnenden Organisationen rufen die Landesregierung Schleswig-Holstein und die Kommunalen Spitzenverbände dazu auf, beim Flüchtlingsgipfel für eine nachhaltige, vom Prinzip der Gleichbehandlung und von Empathie gegenüber den Schutzsuchenden gekennzeichnete Aufnahme- und Integrationspolitik einzutreten.

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Doch Geflüchtete müssen monatelang auf Behördentermine und -bescheide warten. Solange bekommen sie z.B. keine Aufenthaltserlaubnis, keine Verlängerung der Arbeitserlaubnis, keine Verlängerung der Duldung. Aufgrund der Wartezeiten gehen – auch zulasten der Wirtschaft – Jobs und Ausbildungsplätze verloren oder Mietverträge platzen. In der Folge werden auch so ambitionierte politische Vorhaben, wie die Einbürgerungsoffensive oder die Fachkräfteeinwanderung zur Makulatur. Wir appellieren an den Flüchtlingsgipfel, die Voraussetzungen für eine Perspektiven schaffende, von Gleichbehandlung und Chancengerechtigkeit gekennzeichnete Politik und ausländerbehördliche Verwaltungspraxis[1] zu schaffen. Erste Schritte zu diesem Ziel sind:

– Gewährleistung des regelmäßigen analogen und digitalen Zugangs zu Ausländerbehörden

– Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes

-Umwandlung des Stichtags-belasteten und befristeten Chancen-Aufenthaltsrechts zu einer regelmäßigen gesetzlichen Bleiberechtsregelung für alle

-Abschaffung ausländeramtlicher Beschäftigungserlaubnisse

-Regelförderung für migrationsspezifische Integrationsnetzwerke

-Regelförderung für behördenunabhängige Verfahrens- und Rechtsberatung für Geflüchtete

Ehrenamtlich engagierte Bürgerinnen und Bürger sind regelmäßig diejenigen, die eine fehlgeleitete Flüchtlingspolitik kompensieren müssen. Ein Abbau bürokratischer Hürden würde auch dazu führen, dass wieder mehr bürgerschaftlich engagierte Menschen sich die Unterstützung von Schutzsuchenden zumuten würden.

Bei der Unterbringung rufen wir zur Abkehr vom Verwaltungsprinzip „warm-sauber-trocken“ auf und fordern die Gewährleistung von Wohnbedingungen, die für Krieg, Verfolgung und anderen Überlebensnöten entkommene Frauen, Männer und Kinder ein integrationsfreundliches und angstfreies Lebensumfeld schaffen. Zielführend dazu wären:

-die Abschaffung der Wohnverpflichtung[2]

-ein Verteilungssystem, das die Bedürfnisse von Schutzsuchenden und die Ressourcen in den jeweiligen Kommunen besser berücksichtigt[3]

-die regelmäßige Unterbringung in privaten Wohnungen, anstatt Gemeinschaftsunterkünften

-die konsequente Umsetzung von Schutzkonzepten für Frauen, Mädchen und andere vulnerable Gruppen unter den Geflüchteten rund um die Uhr

-lückenlose digitale Versorgung mit WLAN und Endgeräten in Gemeinschaftsunterkünften

Anstatt in den Chor nationaler und europäischer Abschottungs- und Externalisierungspolitik einzustimmen, fordern wir die Landesregierung auf, von Bund und den Ländern eine proaktive, dem grundrechtlichen Schutzversprechen gerecht werdende Aufnahme- und Bleibepolitik sowie Außenamtspraxis einzufordern. Zielführende Instrumente auf diesem Wege wären z.B.:

-erleichterte Visavergaben für Verfolgte aus Afghanistan, dem Iran und der Türkei

-Beschleunigung der Visaerteilung beim Familiennachzug

-Angehörigen-Aufnahmeprogramme für Erdbebenopfer aus der Türkei und Syrien anstatt nur kurzfristiger Besuchsmöglichkeiten

-Landesaufnahmeprogramme für Frauen aus Afghanistan

-ein Türkei-Abschiebungsstopp

-Asyl für alle Deserteure

-Abschiebungsschutz für Familien, Kranke und Traumatisierte

-die Abschaffung der Abschiebungshaft

Neben der Aufnahme von Geflüchteten aus Kriegs- und Krisengebieten stehen Bundes- und Länderregierungen, Kommunen und die Gesellschaft in Deutschland vor der Herausforderung, dem Bedarf an Einwanderung gerecht zu werden, hierfür die strukturellen Voraussetzungen zu schaffen und aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.

Unterzeichnende

-Antidiskriminierungsverband Schleswig-Holstein e.V., www.advsh.de

-Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V. www.frsh.de

-lifeline – Vormundschaftsverein für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Schleswig-Holstein e.V. www.lifeline-frsh.de

-SEEBRÜCKEN Schleswig-Holstein schleswig-holstein(at)seebruecke.org

-ZBBS – Zentrale Bildungs- und Beratungsstelle für Migrant*innen in Schleswig-Holstein e.V. www.zbbs-sh.de

Kontakt: Martin Link, Flüchtlingsrat SH, T. 0431-5568 5640, public@frsh.de


[1] Auch PRO ASYL hat zum Flüchtlingsgipfel einen Katalog möglicher Maßnahmen zur Verbesserung der Lage in den Ausländerverwaltungen vorgelegt.

[2] Gemäß §49 Abs. 2 AsylG können Geflüchtete von der Wohnpflicht in Erstaufnahmeeinrichtungen befreit werden; Berlin hat am 26.1.2023 mit der allgemeinen Aufhebung der Wohnpflicht den ersten Schritt in die richtige Richtung gemacht.

[3] Dafür hat z.B. die Stiftung Universität Hildesheim verwaltungsaffine Vorschläge vorgelegt: https://matchin-projekt.de/